Mehr Treppenwitz geht kaum: ausgerechnet Bundesjustizminister Heiko Maas könnte Opfer seines umstrittenen Netzwerkdurchsetzungsgesetzes sein. Denn ein Tweet, in dem er vor sieben Jahren einmal Thilo Sarrazin als „Idiot“ bezeichnet hatte, ist von Twitter gelöscht worden.

Nachdem Twitter auf Presseanfragen zum Thema nicht reagiert, kann man allerdings nur vermuten, dass die Löschung aufgrund des Anfang des Jahres vollumfänglich in Kraft getretenen Gesetzes erfolgte. Wenige Tage zuvor hatte Twitter sowohl einen Tweet einer Politikerin der AfD gelöscht als auch einen Tweet, in dem sich das Satiremagazin Titanic mit dem Tweet der Politikerin auseinandergesetzt hatte.

Freie Meinungsäußerung trotz übervorsichtiger Alghorithmen?

Damit scheint genau das eingetreten zu sein, was die Kritiker des Gesetzes prognostiziert hatten: übervorsichtig eingestellte Algorithmen löschen in Zweifelsfällen lieber eine Meinungsäußerung, als das Risiko einer Strafzahlung einzugehen.

In dem Maße, in dem öffentlich wird, dass Soziale Netze herausfordernde Äußerungen lieber löschen als eine Strafe zu riskieren, wird deutlich: Einzelfallentscheidungen treffen, Verantwortung übernehmen, ins Risiko gehen – auch das sind Leistungen einer Redaktion. Anbieter digitaler sozialer Netzwerke haben demgegenüber keine eigenen inhaltlichen Prioritäten. Und erst recht keinen öffentlichen Auftrag.

Facebook verliert an Bedeutung für Editorial Media

Facebook verliert zunehmend das Interesse an Nachrichten und journalistischen Inhalten. In einigen Ländern wurden Presseinhalte bereits in einen eigenen „Feed“, eine Nebenseite zur Facebook-Hauptseite verbannt.

Für den Rest der Welt hat Facebook in den letzten Tagen bekanntgegeben, dass professionelle Posts und damit auch journalistische Inhalte weniger prominent platziert werden. Branchenbeobachter glauben, dass genau das längst passiert ist. Weltweit registrieren Nachrichtenmedien schon länger eine abnehmende Bedeutung von Facebook als Quelle für Besucher ihrer eigenen Websites.

Mehr Sichtbarkeit für Cat-Content & Co.

Facebook will mehr Sichtbarkeit für private Posts (Urlaubsfotos, Selfies, Katzen-Content usw.) schaffen, denn augenscheinlich sind das Inhalte, die Facebooknutzer mehr interessieren und zu intensiverer Nutzung des Sozialen Netzes motivieren.

Das würde dazu führen, dass Facebook & Co wieder zu dem werden, als was sie einmal erfunden wurden: als exzellente Hilfsmittel, um sich im Freundes- und Bekanntenkreis zu vernetzen und auszutauschen. Ihren Nimbus, ein primäres Informationsmedium zu sein, werden sie dabei verlieren.

Die frühere Idee, Facebook könne eine Zeitung der Zukunft werden, erscheint zunehmend absurd. Gleichzeitig machen die Krisenherde der Welt, von Nordkorea über den Nahen Osten bis hin zum Phänomen des trollhaft twitternden US-Präsidenten deutlich, dass es einen immensen Bedarf an professioneller journalistischer Berichterstattung gibt.

Bedarf an professionellem Journalismus steigt

In dem Maß, in dem Facebook und Twitter unpolitischer werden, wird wieder deutlicher, was nur journalistische Medien und Redaktionen leisten: professionelle Recherche, das Bemühen um Ausgewogenheit und, vor allem, die Orientierung an den Interessen von Lesern und Gesellschaft. Wenn jemand über einen anderen sagt, er sei ein „Idiot“, dann wird das in Editorial Media weiterhin eine Rolle spielen, wenn eine Redaktion entscheidet, dass das relevant ist.

Das macht Editorial Media in diesem Jahr noch spannender.

Anmerkungen:

*“Wie viel Nachrichteninhalte schaffen es in den Facebook-Feed der Menschen? Unser Experiment legt den Eindruck nahe: nicht so viele“ übertitelte die Medienjournalistin Shan Wang kürzlich einen Beitrag für das renommierte NiemanLab

Ergänzung: am 18. Januar berichtete Politico, dass die HuffPo, ehemals Huffington Post, einer der Pioniere des redaktionslosen Publizierens, entschieden hat, zukünftig nicht mehr jedermann die Möglichkeit zu geben, eigene Beiträge unter dem Label der Digitalzeitung zur veröffentlichen. „Das war keine leichte Entscheidung, denn Blogautoren waren von Anfang an Teil von Herz und Seele der Huffpost. Aber im gegenwärtigen Klima müssen wir als Redaktion wieder darüber bestimmen, was wir veröffentlichen“, sagt Chefredakteurin Lydia Polgreen.

Der Autor

Markus Schöberl
Markus Schöberl
Markus Schöberl hat fast 15 Jahre im Pressevertrieb auf Verlagsseite gearbeitet und dort viel über die unterschiedlichen Prioritäten von Zeitungen und Zeitschriften, in Abo und Einzelvertrieb und zuletzt auch beim Vertrieb digitaler Presse (Paid Content) erfahren. Seit 2013 veröffentlicht er einmal monatlich pv digest, eine Analyse der wichtigsten Entwicklungen in diesen Bereichen. Darüber hinaus berät er ausgewählte Verlage und Vertriebsunternehmen in Vertriebsfragen, hält Vorträge und moderiert Veranstaltungen zu seinen Themen.