Als das britische Wochenmagazin The Spectator im September den Besitzer wechselte, war ihm internationale Aufmerksamkeit sicher. Unter anderem berichteten die New York Times, die F.A.Z. und Le Monde. Woher rührt das Interesse? Die Größe kann es nicht sein, der Spectator ist wahrlich kein Massenblatt. Eine Kombination von Eigenschaften ist es, die ihn einzigartig macht: Er hat eine außergewöhnliche Tradition, meistert ungeachtet seines ehrwürdigen Alters die digitale Transformation, wächst gegen den Branchentrend und ist so einflussreich wie kein anderes Medium seiner Größe. Das macht ihn zu einer prestigeträchtigen Trophäe, die hoch gehandelt wird.

Stolze Tradition

Der Reihe nach: Die erste Ausgabe erschien vor fast 200 Jahren, im Juli 1828. Der Spectator ist damit die älteste überlebende Zeitschrift der Welt. Der Gründer war ein liberaler Reformer namens Robert Rintoul, der die Redaktion drei Jahrzehnte lang selbst leitete. Das Blatt, so ist in der 2020 erschienenen „History of The Spectator“ zu lesen, sei stets für die Freiheit des Individuums gegenüber der Staatsgewalt eingetreten. In den 1820er Jahren habe er damit auf der linken Seite des politischen Spektrums gestanden, in den 2020ern stehe er damit auf der rechten.

Tatsächlich unterstützte der Spectator im 19. Jahrhundert Abraham Lincolns Kampf gegen die Sklaverei, während die meisten britischen Blätter für die wirtschaftlichen Interessen der Baumwollfarmer in den Südstaaten Partei ergriffen. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich der Spectator zur Lektüre konservativer Eliten und unterstütze u. a. Margaret Thatchers Kampf für einen schlanken Staat. Zu seinen Chefredakteuren zählte um die Jahrtausendwende der spätere Premier Boris Johnson. Der aktuelle Chefredakteur, Michael Gove, gehörte den Kabinetten von David Cameron bis Rishi Sunak an.

Digitale Transformation

Die ersten digitalen Abos verkaufte der kleine Spectator schon 2010, ein Jahr vor der großen New York Times. Auf 885 Exemplare belief sich die digitale Auflage im Jahresdurchschnitt 2010, ein Jahrzehnt später war sie auf 19.792 geklettert. Die Pandemie verlieh dem digitalen Vertriebsweg ab März 2020 zusätzlichen Schub. 2023 war die hart verkaufte Gesamtauflage mit 106.290 fast doppelt so hoch wie zur Jahrtausendwende, und 44.000 digitale Exemplare, fast ausschließlich Abos, machten bereits 41 Prozent aus. Im laufenden Jahr dürfte sich der digitale Anteil weiter auf ungefähr die Hälfte erhöht haben. Das Digital-Abo kostet aktuell rund 132 Pfund im Jahr, für Print plus digital zahlt ein Abonnent 180 Pfund. Gratis veröffentlicht die Redaktion bewegte Bilder: Auf YouTube erreicht Spectator TV damit 406.000 Abonnenten.

Parallel zur Auflage nahmen die Erlöse vor allem in den letzten Jahren stark zu. Von 11,3 Millionen Pfund 2015 stiegen sie auf 20,8 Millionen Pfund 2022. Vertriebserlöse machen vier Fünftel aus.

Hohe Bewertung

Der Spectator kam auf den Markt, weil seine Besitzer, die schottischen Barclays, ihren Schuldendienst nicht mehr leisten konnten und den Spectator verpfändet hatten. Nach einem Fachpressebericht bewarben sich 22 Interessenten, „darunter einige der größten und angesehensten britischen und europäischen Verlagshäuser“. Den Zuschlag erhielt schließlich der Hedgefonds-Gründer und Medieninvestor Sir Paul Marshall bei einem Kaufpreis von 100 Millionen Pfund. Zwei Jahrzehnte zuvor war der Titel erst mit 20 Millionen Pfund bewertet worden.

Die Relation des realisierten Marktpreises zum letzten bekannten Umsatz  – 20,8 Millionen Pfund im Jahr 2022 – beträgt 4,8. Zum Vergleich: Für die Washington Post zahlte Jeff Bezos 2013 ein Multiple von 0,4, Marc Benioff zahlte 2018 das 1,1-fache des Umsatzes für Time, Nikkei zahlte für die Financial Times 2015 das 2,8-fache. Derselbe Wert ergab sich 2015 auch, als der Economist eigene Aktien von Pearson zurückkaufte. Höhere Bewertungen als beim Spectator fielen nur bei digitalen Startups an. So zahlte Axel Springer 2021 das 5-fache für Politico und die New York Times musste 2022 für The Athletic das 8,5-fache berappen. Wer weiß, vielleicht wird auch der Spectator bald noch wertvoller; Paul Marshall hat angekündigt, kräftig investieren zu wollen.

Dr. Uwe Sander
Dr. Uwe Sander
Der gelernte Volkswirt arbeitete nach einigen Jahren in der empirischen Wirtschaftsforschung von 1984 bis 2014 in verschiedenen Funktionen beim Verlag Gruner+Jahr, u.a. für die Titel Capital, Stern, GEO und Art. Heute ist er freiberuflich als Autor und Berater tätig. Sein besonderes Interesse gilt der Entwicklung des digitalen Journalismus.