Im Juni 2010 errichtete die Times of London als weltweit erste große General-Interest-Zeitung eine Bezahlmauer auf ihrer Website. Und zwar eine harte, undurchlässige Mauer –  wer nicht zahlte, konnte nichts lesen. Damals kursierte im Netz noch die Losung „Information wants to be free“. Bei der Times verstehe man das Internet nicht, kommentierten manche Beobachter. Diese hatten ihrerseits wohl noch nicht realisiert, dass das Wort „frei“ in „Freiheit“ und „Freibier“ Unterschiedliches meint. Und zu ihrer Überraschung ging Murdoch`s Paywall-Plan auf.

Murdoch’s hard-paywall success

2014 erwirtschaftete die Times nach vielen verlustreichen Jahren wieder einen operativen Gewinn. Unter der Überschrift „Murdoch´s hard-paywall success“ rechnete das renommierte Columbia Journalism Review vor, dass der Paywall-Plan aufgegangen war.

Die digitale Reichweite war zwar stark eingebrochen, doch hatte sich diese ohnehin nur schwer monetarisieren lassen. Die wegen der Bezahlmauer entgangenen digitalen Werbeerlöse konnten durch einen Mix aus neuen digitalen Vertriebserlösen und stabilisierten Printerlösen überkompensiert werden. Die Stabilisierung der Letzteren resultierte nicht aus Preisanhebungen, sondern aus einem Mengeneffekt.

Rund 18 Monate nach Einführung der Paywall begann sich nämlich bei der Times die Printauflage zu stabilisieren, während sich der Rückgang bei anderen Titeln fortsetzte. Im Umkehrschluss, so Times-Digitalchef Alan Hunter, ließ sich daraus die wichtige Lehre ableiten, dass digitale Gratisinhalte sehr wohl die gedruckten Bezahlinhalte kannibalisieren können. Die Möglichkeit eines solchen Wirkungszusammenhangs hatten engagierte Paywall-Gegner jahrelang bestritten.

Die Times ist Marktführer nach Gesamtauflage und nach Abo/EV

Hauptkonkurrent Daily Telegraph führte im April 2013 eine Metered Paywall mit zwanzig freien Zugriffen pro Monat ein. Dies blieb allerdings nahezu wirkungslos. Zwar wurde Ende 2016  der Zugriff auf die Website durch ein Freemium-Modell ein wenig effektiver begrenzt, doch schon im Dezember 2017 übertraf die Times erstmals den Telegraph nach der gesamten Verkaufsauflage.

Im August 2019 zog die Times dann auch nach der „harten“ Auflage – der Summe aus Einzelverkauf und Abo –  am Telegraph vorbei. Zeitweise wiesen die Kurvenzüge beider Titel einen „Buckel“ infolge erhöhter sonstiger Verkäufe auf. Inzwischen hat der Telegraph solche Verkäufe komplett eingestellt, die Times hat sie auf rund 50.000 Exemplare zurückgefahren.

Seit 2016 hat die Bezahlmauer ein Guckloch und die Digital-Abos wachsen

Bei alledem wissen Alan Hunter und seine Kollegen natürlich, dass ihre Medienmarke Wachstum nur noch digital realisieren kann. Auch sie mussten Korrekturen am ursprünglichen Kurs vornehmen: Sie erkannten, dass die Sichtbarkeit ihrer Marke durch die harte Bezahlmauer zu stark eingeschränkt wurde.

Daher schlugen sie ein Guckloch in die Mauer: Wer sich auf der Website mit seiner E-Mail-Adresse registriert, kann seit Mitte 2016 zwei Artikel pro Woche gratis lesen und einzelne Newsletter beziehen. Heute bilden fünf Millionen registrierte Nutzer ein veritables Zielgruppenpotenzial für neue Digital-Abos, von denen es jetzt immerhin schon 304.000 gibt. Eine zuletzt zweistellige jährliche Wachstumsrate der Digital-Abos tröstet darüber hinweg, dass die Printauflage nun auch bei der Times bröckelt, wenn auch weniger schnell als bei Guardian und Telegraph.

Zur Geschichte der Times of London

Die Times of London wurde 1785 gegründet. Kräftiges Wachstum stellte sich erst Jahrzehnte später ein, im Zuge der industriellen Revolution. Mit einer liberalen Grundhaltung gewann die Zeitung Einfluss. Sie wechselte in ihrer Geschichte mehrmals den Besitzer, bevor sie 1981 zusammen mit der Sunday Times von einem kanadischen Verleger an den gebürtigen Australier Rupert Murdoch verkauft wurde.

Die Sunday Times war – und ist bis heute – mit großem Vorsprung Auflagen-Marktführer im sonntäglichen Qualitätssegment. Doch bei den Tageszeitungen rangierte die Times hinter dem Daily Telegraph lange an zweiter Position. Nach redaktioneller Grundausrichtung ist die Times zwischen dem konservativen Telegraph und dem progressiven Guardian positioniert. In der Brexit-Debatte plädierte sie 2016 für den Verbleib des Landes in der EU – gegen Rupert Murdochs persönliche Präferenz.

Dr. Uwe Sander
Dr. Uwe Sander
Der gelernte Volkswirt arbeitete nach einigen Jahren in der empirischen Wirtschaftsforschung von 1984 bis 2014 in verschiedenen Funktionen beim Verlag Gruner+Jahr, u.a. für die Titel Capital, Stern, GEO und Art. Heute ist er freiberuflich als Autor und Berater tätig. Sein besonderes Interesse gilt der Entwicklung des digitalen Journalismus.