Es ist eine Binsenweisheit: Der Königsweg des Qualitätsjournalismus führt über den Inhalt. Durch das wachsende Angebot an nicht-journalistischen Online-Publikationen, die nur einen Fingertipp entfernt warten, sind Leser im Digitalzeitalter wählerischer geworden und lesen in der Regel weniger Artikel pro Medium als früher in der Zeitung. Die Kunst für Verleger besteht nun darin, die richtigen Inhalte zu antizipieren und anzubieten.

Dass dabei in der Menge überraschenderweise weniger mehr ist, hat das Branchenportal Digiday analysiert. „Ob ein Digitalmagazin 100, 500, oder 1.000 Artikel veröffentlicht, macht keinen Unterschied für den Leser“, erklärt der dänische Medienanalyst Thomas Baekdal gegenüber Digiday. „Es ist die Qualität und der Reiz der Artikel, auf die es ankommt.“

Verlage reduzieren Artikelanzahl – und die Reichweite wächst

Eine Analogie zieht Baekdal dabei zur Videoplattform YouTube, wo die beliebtesten Videoblogger kaum mehr als einmal oder zweimal am Tag posten würden. „Verleger sehen sich das an, machen eine Analyse und finden heraus, dass es niemand beachtet, wenn sie die weniger wertvollen Inhalte herausschmeißen“, resümierte der dänische Medienexperte.

Tatsächlich haben europäische Traditionsverlage nach der Erkenntnis die Menge ihrer Digitalpublikationen in den vergangenen Jahren heruntergefahren. Mit der damit einhergehenden schärferen Fokussierung auf Qualitätsinhalte wurden nachhaltigere Erfolge in Form einer gesteigerten Reichweite und wachsenden Leserschaft erzielt.

Guardian reduziert Artikel um ein Drittel

Der altehrwürdige Guardian, der in zwei Jahren bereits seinen 200. Geburtstag feiert, ist mittels seines Analyse-Tools Ophan zum Schluss gekommen, dass viele Inhalte schlicht kaum gelesen werden. Die Konsequenz: Die britische Vorzeige-Tageszeitung mit einer eher unkonventionellen Digitalstrategie reduzierte ihren wöchentlichen Artikel-Output im vergangenen Jahr um gleich ein Drittel.

Die Folge der vermeintlichen Radikalkur überrascht jedoch: Tatsächlich haben die Leser das klarer strukturierte Angebot goutiert. Gemäß dem Internetmarktforscher Comscore konnte The Guardian im Dezember 2019 bereits 25 Millionen monatlich aktive Nutzer (unique user) ausweisen – ein Plus von sieben Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Guardian-Chefredakteurin Katharine Viner hatte auf den bemerkenswerten Paradigmenwechsel bereits im Jahresverlauf hingewiesen.

Auch The Times und Le Monde verschlanken Angebot erfolgreich

The Guardian ist kein Einzelfall. Auch der nationale Konkurrent The Times of London folgt der Weniger-ist-mehr-Strategie zumindest im „Home News“-Segment. Im vergangenen Sommer reduzierte die 235 Jahre alte britische Tageszeitung in diesem Bereich die Zahl der publizierten Artikel um 15 Prozent, nachdem eine Analyse zum Ergebnis gekommen war, dass Artikel ohne exklusive oder weiterführende Inhalte underperformten. Nach der Straffung der Inhalte stieg die verbrachte Zeit in der Smartphone-App im Home News-Segment um 25 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.

Und auch in Frankreich geht die neue Fokussierung auf Qualitätsinhalte auf.  So hat Le Monde zwischen 2017 und 2019 die Anzahl der veröffentlichten Artikel um ein Viertel heruntergefahren – und gleichzeitig die Redaktion aufgestockt. Mit Erfolg: Nach Angaben von Chefredakteur Luc Bronner ist sowohl die Online-Leserschaft als auch die Gesamtauflage (Print und Digital) im Vergleichszeitraum um 11 Prozent gestiegen.

Schönes Signal für Journalisten und Verleger von Qualitätsinhalten: Auch in der Digitalära schlägt Klasse also die Masse.

Der Autor

Nils Jacobsen
Nils Jacobsen
Nils Jacobsen ist Wirtschaftsjournalist und Techreporter in Hamburg. Der studierte Medienwissenschaftler und Buchautor („Das Apple-Imperium“ / „Das Apple-Imperium 2.0“ ) berichtet seit 20 Jahren über die Entwicklung der Aktienmärkte und digitalen Wirtschaft: seit 2008 täglich für den Branchendienst MEEDIA, in einer wöchentlichen Kolumne für Yahoo Finanzen und in monatlichen Reportagen für die Marketingzeitschrift absatzwirtschaft. Jacobsen war zudem als Chefredakteur der Portale CURVED, clickfish, US FINANCE und YEALD aktiv.