„Wir betreten das goldene Zeitalter von Video“, erklärte Mark Zuckerberg Anfang 2016 gegenüber Buzzfeed. „Was wir bei Facebook beim Thema Video sehen ist dieses exponentielle Wachstum„, erzählte Facebooks Vicepresidentin EMEA, Nicola Mendelsohn, Mitte 2016 auf einer Veranstaltung des Wirtschaftsmagazins Fortune. Gerade Smartphonenutzer bevorzugten Videos gegenüber Textangeboten. Wenn Werbetreibende ihre Botschaften platzieren wollen, dann sei Video gerade das richtige Format. „In fünf Jahren wird ALLES Video sein„, sagte sie. Auf der ‚The Most Powerful Women‘-Veranstaltung des Wirtschaftsmagazins Fortune Mitte 2016 sprach sie fast eine Viertelstunde lang über die Bedeutung von Videos bei Facebook. Ihr Beitrag steht heute noch über Youtube zur Verfügung.

Falsche Angaben zur durchschnittlichen Video-Nutzungszeit

Nicht fünf Jahre, sondern nur 3 Monate später war die Euphorie bei Facebook schon gedämmt. Der Social Media-Riese musste sich bei seinen Kunden für massiv überhöhte Angaben zur Videonutzung entschuldigen. Denn bei der Darstellung der Kennzahl für die durchschnittliche Nutzungsdauer hatte Facebook schlicht alle Fly-by-Klicks – Videoaufrufe, die weniger als 3 Sekunden dauern – nicht berücksichtigt. Dadurch ergaben sich viel zu hohe Durchschnittswerte.

Einzelnen Werbetreibenden gegenüber bezifferte Facebook die Größenordnung des Fehlers auf zwischen 60-80 Prozent. So berichtete es das Wall Street Journal, das 2016 dieses Thema öffentlich gemacht hatte. Eine Gruppe kleiner Werbetreibender reichte damals Klage ein. Facebook habe mit den viel zu großen Zahlen gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen. Außerdem hätten die falschen Daten möglicherweise zu falschen Entscheidungen bei Werbetreibenden beigetragen.

Im Zuge der Beweisaufnahme bekamen die Kläger Zugang zu internen Facebook-Dokumenten. Nach deren Auswertung erweiterten sie ihre Beschwerde um einen Betrugsvorwurf. Die Angaben zur durchschnittlichen Videonutzung seien nicht um maximal 80 Prozent, sondern um 150-900 Prozent überhöht gewesen. Außerdem habe Facebook schon ein Jahr, bevor es den Fehler öffentlich bekanntgab, davon gewusst.

Facebook wehrt sich gegen die Anschuldigungen. Sie seien falsch. Man habe über den Messfehler informiert, sobald man ihn selbst entdeckt habe. Und der Fehler habe keine negativen wirtschaftlichen Auswirkungen bei den Facebook-Werbekunden gehabt, weil der Messfehler nicht abrechnungsrelevant war.

Ist Facebooks Fehler verantwortlich für „fürchterliche Entscheidungen“?

Das heißt aber nicht, dass Facebooks falsche Angaben ohne Folgen geblieben wären. Die Digitalmedienjournalistin Laura Hazard Owen, stellvertretende Chefredakteurin beim renommierten NiemanLab in den USA, stellt die Frage: „Haben Facebooks fehlerhafte Daten Nachrichtenmedien zu fürchterlichen Entscheidungen beim Thema Video getrieben?“. Digitale Medienanbieter hatten im Jahr 2017 reihenweise angekündigt, das Format Video massiv auszubauen, oft zulasten von textlicher Berichterstattung und nicht selten mit der Folge der Entlassung von Journalisten. Owen führt hier zahlreiche Beispiele an, von bekannten Startups (wie Mic oder Vice) bis hin zu etablierten Medien (Nachrichtensender Fox Sports).

Der Mediendienst Digiday diagnostizierte damals einen Goldrausch („Publishers are stampeding into video„). Das bekannte und anerkannte New York Magazine sprach von einer „fortdauernden Abwendung von Text und Bild hin zu Videos als dem primären Produkt digitaler Medienunternehmen„. Der englische Medienjournalist Peter Houston sah zwischen 2016 und 2017 „eine weitreichende Bewegung weg von statischen Inhalten hin zu Videoinhalten„. Auch Houston sieht Facebook als Hauptmotivator für viele Verlage. „Die Idee, dass der größte Player Videoinhalten Priorität gibt, war alles was sie brauchten, um (selber) all-in zu gehen“.

Damals wie heute gilt: Text ist ein bevorzugtes Format für journalistische Medien

Freilich gab es auch damals schon besonnene Stimmen, die „den einen oder anderen zum Nachdenken anregen werden, die meinen, Videos seien die Zukunft des Journalismus“, wie es der deutsche Medienjournalist Jens Schröder auf Meedia formulierte. Denn andere Studien kamen schon damals zu dem Schluss, dass selbst junge Menschen Nachrichten lieber lesen als ansehen. Und sogar die ganz jungen Gen Z-ler wissen journalistische Medien und besonders auch deren Printangebote noch zu schätzen.

„Wenn ich wetten soll, dann würde ich sagen Video, Video, Video„, sagte Facebook Managerin Nicola Mendelsohn auf der oben erwähnten Konferenz. Diese Wette hat sie verloren.

Der Autor

Markus Schöberl
Markus Schöberl
Markus Schöberl hat fast 15 Jahre im Pressevertrieb auf Verlagsseite gearbeitet und dort viel über die unterschiedlichen Prioritäten von Zeitungen und Zeitschriften, in Abo und Einzelvertrieb und zuletzt auch beim Vertrieb digitaler Presse (Paid Content) erfahren. Seit 2013 veröffentlicht er einmal monatlich pv digest, eine Analyse der wichtigsten Entwicklungen in diesen Bereichen. Darüber hinaus berät er ausgewählte Verlage und Vertriebsunternehmen in Vertriebsfragen, hält Vorträge und moderiert Veranstaltungen zu seinen Themen.